Samstag, 28. Juni 2008

Was ist weibliches Genie ? Berliner Zeitung 23. Juni 2008

Ein Gespräch mit der Philosophin Julia Kristeva

Sabine Rohlf

Mit ihren Arbeiten zu Sprache, Subjekt und Weiblichkeit - darunter Klassiker wie "Die Revolution der poetischen Sprache" oder "Fremde sind wir uns selbst" - ist die Literaturtheoretikerin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Julia Kristeva, geboren 1941, seit vier Jahrzehnten eine der wichtigsten Denkerinnen des europäischen Feminismus. 1966 aus Bulgarien nach Frankreich gekommen, bekleidet sie dort seit 1976 einen Lehrstuhl an der Université Paris 7. Sie wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter der Hannah Arendt-Preis 2006. In ihrer neuen Trilogie "Das weibliche Genie. Das Leben. Der Wahn. Die Wörter", die sie gerade in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorstellte, widmet sie sich Hannah Arendt, Melanie Klein und Colette.

In früheren Arbeiten haben Sie sich vor allem mit männlichen Autoren wie Lautréamont, Mallarmé, Céline, Beckett oder Proust beschäftigt. Seit einigen Jahren konzentrieren Sie sich auf Frauen, warum?

Ich gelte ja als feministische Theoretikerin. Allerdings gab es lange kein Buch von mir, das meine Konzeption von Weiblichkeit ausarbeitet. Meine Studenten meinten, ich solle es schreiben.

Warum gerade diese drei Frauen - eine politische Philosophin, eine Psychoanalytikerin, eine Schriftstellerin?

Ich fand es unmöglich, verallgemeinernde Aussagen über Frauen zu machen. Es ist ja eine der Leistungen der Frauenbewegung, mit universalisierenden Konzeptionen über diesen oder jenen Teil der Menschheit zu brechen, und ich denke, dass eine feministische oder auch allgemeine Kulturtheorie mit konkreten Beispielen arbeiten sollte. Sie waren nicht schwer zu finden: Hannah Arendt ist unhintergehbar, wenn man sich dem Horror, den Tragödien des 20. Jahrhunderts zuwendet. Die Entscheidung für Melanie Klein hat mit meiner psychoanalytischen Arbeit zu tun: Sie bewegte sich nahe an Freud, war gleichzeitig sehr unabhängig, etablierte eine neue Richtung der Analyse. Mit diesen beiden Frauen sind wir bei den politischen Katastrophen, dem Wahn, der Psychose. Ich wollte aber auch zeigen, wie Frauen die Schrecken des 20. Jahrhunderts überwinden, der Melancholie entkommen. Viele der großen Schriftstellerinnen schafften das nicht, denken Sie an Marina Zwetajewa oder Virginia Woolf. Aber es gab auch viele Frauen in dieser Zeit, die ihr Leben, ihre Sinnlichkeit genossen, experimentierten und Freude daran hatten. Colette schrieb sehr enthusiastisch darüber und ist damit unter Schriftstellerinnen eine große Ausnahme.

Warum nennen sie diese drei Frauen "Genies"? Das ist ein ziemlich umstrittener, traditionell eher mit Männern verbundener Begriff.

Ja, "Genie" auf Frauen zu beziehen ist eine Provokation. Ich verfolge mit ihr zwei Ziele: Zum einen wende ich mich gegen die Tendenz, den Kampf für die Befreiung einer Gruppe auf Kosten der Individualität des Einzelnen gehen zu lassen. Sie kennzeichnet die großen Befreiungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, und es gibt sie auch unter Feministinnen. Daher der Appell: Bitte nehmt die Singularität, die individuellen Leistungen aller zur Kenntnis - das ist die Basis für jede Befreiung! Zweitens möchte ich zeigen, dass jede Frau, jeder Mensch über die Fähigkeit verfügt, über sich selbst hinauszuwachsen. Für mich ist Genie nicht das Unerreichbare, das Göttliche - es ist vielmehr die Fähigkeit, sich selbst zu überschreiten, und zwar in dieser Welt. Wer meine Bücher über Arendt, Klein und Colette liest, kann sehen, dass diese Frauen zunächst eine Menge Schwierigkeiten hatten, aber fähig waren, sie zu überwinden und ein Werk zu schaffen, das keineswegs romantisch, göttlich oder absolut gewesen ist, aber neue Horizonte eröffnet.

Sehen Sie darin etwas spezifisch Weibliches, immerhin heißt es im Titel "Le génie féminin"?

Natürlich hat auch jeder Mann die Fähigkeit, seine Einzigartigkeit zu kultivieren. Mein Eindruck ist aber, dass Frauen in unseren Demokratien gerade gute Bedingungen haben, sich weiterzuentwickeln. Ich beobachte eine Initiative, ein Begehren und eine Dynamik, die mich sehr beeindrucken. Im Vergleich dazu befindet sich Männlichkeit in einer Art Krise. Man kann das an Jungen sehen, die angesichts traditioneller Männlichkeitsmuster - große Denker, Konzernchefs usw. - Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Standards zu finden. Frauen sind dynamischer, sie mischen traditionell männliche und traditionell weibliche Rollen und Eigenschaften, haben neue Ideen.

Hier in Deutschland wurde in den vergangenen Wochen viel über den Mai 1968 geschrieben. Wie haben Sie ihn in Paris erlebt und wie schätzen Sie seine Bedeutung ein?

Es war zwei Jahre, nachdem ich aus Bulgarien nach Frankreich gekommen war, und ich war überwältigt von diesem Begehren, die Sexualität und die Phantasie zu befreien, die jungen Leute zu mobilisieren . Die Entwicklungen, die wir jetzt sehen - die der Frauen, die Rolle der jüngeren Generation, die Öffnung gegenüber ethnischen und religiösen Differenzen - sind in den Bewegungen der 60er-Jahre angelegt. Vor zwei Tagen sagte jemand zu mir: "Ich verstehe gar nicht, warum alle von 1968 reden, viel wichtiger war doch der Fall der Berliner Mauer." Aber selbst der Fall der Berliner Mauer ist eine Konsequenz aus einer Entwicklung, die 1968 begann. Sie gab auch Menschen in Osteuropa die Vorstellung, dass man die Gesellschaft verändern kann.

An den französischen Universitäten nach '68 spielten Philosophie und Theoriebildung eine entscheidende Rolle. Wie stellt sich das heute dar?

Es herrscht allgemein der Eindruck, dass es keine großen Denker mehr gibt. Ich glaube, das begann mit den Attacken gegen die französische Theorie, von der es hieß, sie sei irgendwas Unverständliches zwischen Mathematik und Geisteswissenschaften. Das war eine Art Abwehrreaktion der amerikanischen Universitäten, die sich wohl kolonisiert fühlten - und einige unserer theoretischen Entwicklungen wirkten wirklich ziemlich abstrakt. Dazu kommt, dass wir heute in einer Zeit des Sicherheitsdenkens leben, des Konservatismus, des "Cocooning", wozu die Art von Freiheit, um die es in diesen Theorien geht, nicht gut passt. Aber sie werden an den Universitäten weiterentwickelt und vernetzten sich wieder deutlicher mit konkreten Fragen, etwa der kulturellen oder sexuellen Differenz, der Migration, der Religion.

Sie selbst beschäftigen sich auch mit Religion, worum geht es dabei?

Ein Trend, der mich sehr interessiert, ist eine neue Annäherung an das religiöse Vermächtnis Europas. Ich denke, dass wir Kinder der Säkularisierung uns dieser Tradition stellen sollten. Ich selbst ordne mich dabei einer Moderne zu, die dies mit den Mitteln der Psychoanalyse tut. In meinem neuen Buch "Thérèse mon amour", das gerade in Frankreich erschienen ist, beschäftige ich mich mit Teresa von Ávila, einer Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert. In ihren Visionen und ihrem Schreiben darüber entwickelte sie eine Form der Religiosität, die Glauben mit absoluter Liebe verbindet. Ihre Kreativität ist auch eine Form des weiblichen Genies, zwar keine des 20. Jahrhunderts, aber eine, von der wir in Zeiten des "Clash" der Kulturen und der Religionen einiges lernen können.

Das Gespräch führte Sabine Rohlf.

-

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen